Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie es wäre, wenn es beim Einkaufen vor Ort auch Cookies, Tracking und Behavioral Targeting gäbe? Was wir online kaum noch wahrnehmen, wird übertragen auf die „reale Welt“ zum skurrilen und gleichzeitig erschreckenden Szenario. Lesen und entscheiden Sie selbst, wie gut Ihnen das Kaufhaus Internet als Shopping-Adresse in Ihrer Stadt gefallen würde.
„Schnell, schnell! Da kommt wieder der Herr Mustermann. Baut schnell die Schaufenster um!“ Aufgeregte Betriebsamkeit herrscht im Kaufhaus Internet. Kein Wunder, schließlich will man jedem Kunden die Angebote präsentieren, die ihn auch wirklich interessieren. Also werden die Pelzmäntel für Frau Meier schnell wieder aus der Schaufensterdekoration entfernt und gegen einen gigantischen 65 Zoll UHD-TV ausgetauscht. Was bei den Dekorateuren für ein genervtes Murren sorgt. „Der kommt jetzt schon das dritte Mal diese Woche vorbei und guckt sich den Fernseher an. Der kauft den doch sowieso nicht, der alte Geizkragen! Und wir müssen trotzdem schuften.“
Alles Lamentieren hilft nicht. Für jeden Kunden eine individuelle Schaufensterdekoration. Das ist die Vorgabe der Geschäftsleitung. Genau in der Sekunde, als Herr Mustermann um die Ecke biegt, sind die Dekorateure fertig. Punktlandung. Und tatsächlich: Wie gebannt starrt Herr Mustermann auf den Fernseher und malt sich in seinen Träumen aus, wie auf diesem Wunderwerk der Technik aktuelle Blockbuster genießt oder die Spiele seiner Lieblingsmannschaft live verfolgt. Wenn nur das liebe Geld nicht wäre! Mit einem Seufzen wendet er sich vom Schaufenster ab und betritt das Kaufhaus. Dort wird er vom Recommendation Manager und dem Leiter der Produktsuche und dem Abteilungsleiter Kundenbeziehungsmanagement auch sofort persönlich begrüßt.
Hier kennt man jeden Kunden ganz genau
„Herzlich willkommen, Herr Mustermann! Schön, dass Sie mal wieder bei uns vorbeischauen. Wie geht es Ihnen denn heute?“ Der Abteilungsleiter Kundenbeziehungsmanagement blättert eilig in seinen Unterlagen. „Interessieren Sie sich immer noch für einen neuen Fernseher? Kommen Sie! Ich führe sie direkt zu den aktuellen Angeboten!“ Doch Herr Mustermann winkt ab: „Nein, danke. Heute nicht. Ich brauche ein Geschenk für einen Freund. Ich hatte an ein Bierbrauset gedacht, bei dem man das Bier schon nach sieben Tagen trinken kann und es nicht in Flaschen abfüllen muss. Da soll es so eine Lösung geben, die heißt Bier …“ „Sie meinen das Bierfässchen*!“, vervollständigt der Leiter der Produktsuche schnell. „Kein Problem! Wenn Sie mich bitte begleiten wollen.“
Interessiert schaut sich Herr Mustermann die Verpackung des Bierfässchens an. „Das hat eine Weiterempfehlungsquote von über 90 Prozent“, schwärmt der Verkäufer, der sich der Gruppe angeschlossen hat. Währenddessen macht sich der Recommendation Manager fleißig Notizen und protokolliert genau, welche Produkte sich Herr Mustermann wie lange angeschaut hat. „Wie wäre es, wenn Sie das Fässchen direkt noch einmal in einer anderen Geschmacksrichtung mitnehmen würden? Wenn ich Ihnen hier etwas empfehlen dürfte …“ Herr Mustermann lässt sich breitschlagen und schleppt seine Einkäufe zur nächsten Kasse. Auf dem Weg dorthin lässt der Recommendation Manager nicht locker: „Wie wäre es denn mit diesen Strümpfen? Die haben Sie sich doch vor einer Woche ganz intensiv angesehen? Und was ist mit den Kondomen, für die Sie sich letzten Monat interessiert haben. Hat sich das erledigt?“ Herr Mustermann läuft rot an. „Nein, nein, ich brauche sonst nichts. Vielen Dank!“
Nach dem Einkauf ist vor dem Einkauf
Als Herr Mustermann das Kaufhaus Internet verlässt, holt er erst einmal tief Luft. Die sind ja wirklich sehr bemüht, aber manchmal wird es mir doch etwas zu viel, denkt er vor sich hin. Durch die Fenster kann er das Verkaufsteam sehen, das ihm immer noch fröhlich zuwinkt. Erst als er hinter der nächsten Ecke verschwunden ist, werden die Verkäufer wieder ernst. „So, Leute. Ich will ein Kundenhistorien-Update in einer Minute. Habt ihr das gesehen? Seine Hand hat drei Mal gezuckt, als er an den Fernsehern vorbeigegangen ist. Und diesmal war er 33 Sekunden vor dem Schaufenster. So lange wie noch nie. Moment: Das Analyse-Team meldet sich gerade per Funk. Die Kaufwahrscheinlichkeit beim Fernseher ist auf 85 Prozent gestiegen. Leute, ab an die Arbeit!“ Feierabend ist noch lange nicht im Kaufhaus Internet. Während das Schaufenster für Herrn Müller, den nächsten Kunden, neu aufbereitet wird, sitzt das Werbeteam schon an der Produktion des individuellen Flyers, den Herr Mustermann morgen im Briefkasten vorfinden wird. „Ich schwör’s euch. Jetzt noch ein 5 Prozent Rabattcoupon und dann haben wir ihn“, brüllt der Geschäftsführer durch die Verkaufshallen. „Was ist unser Leitspruch?“ Und alle Mitarbeiter schreien euphorisch zurück: „Wir kriegen sie alle!“
Plötzlich wird der Geschäftsführer leichenblass: „Leute, ist das Targeting-Team etwa noch nicht ausgerückt? Schnell, hinterher!“ Eilig macht sich das fünfköpfige Team auf, um Herrn Mustermann zu verfolgen. Glücklicherweise war der noch nicht weit gekommen und sah sich am Zeitschriftenkiosk die Schlagzeilen der Tageszeitungen an. „Schauen Sie mal, Herr Mustermann! Ein toller 65 Zoll – Fernseher für 1.500 Euro! Wie wäre es?“, fragt ein Team-Mitglied und hält Herrn Mustermann eine riesige Werbetafel direkt vor die Nase. Ein anderes Team-Mitglied drängt sich dazwischen: „Hier gibt es Kondome im Sparpack. Die, die so interessant fanden. Wenn Sie innerhalb von zwei Stunden bestellen, liefern wir Ihnen die kostenlos bis morgen Mittag nach Hause!“ Herr Mustermann jedoch wird es langsam etwas zu viel. Wütend schubst er die Kaufhaus-Mitarbeiter zur Seite und konzentriert sich wieder voll und ganz auf die Zeitungen.
„Leute, Rückzug“, ruft der Teamleiter. „Wir sammeln uns jetzt und gehen zum Haus von Herrn Mustermann. Dort warten wir am Briefkasten. Früher oder später wird er dort auftauchen. Außerdem möchte ich, dass alle Posten im Werbeverbund besetzt sind. Rathaus, U-Bahn, Ladengeschäfte und und und! Wenn Herr Mustermann da vorbekommt, müssen wir schon da sein!“ Also schwärmt das Team aus. Herr Mustermann, der die Kommandos gehört hatte, zieht sich die Kapuze seines Mantels tief ins Gesicht und entfernt sich leise. Vielleicht hat er so ein paar Stunden Ruhe vor dem Kaufhaus Internet. Ach, wie schön wäre es doch, wenn man ein wenig Privatsphäre hätte, denkt er sich. Obwohl – vielleicht macht er doch noch einmal einen Abstecher zum Kaufhaus. Der Fernseher ist ja schon toll. Und jetzt auch so günstig …